Das Wendalinum um 1820 – das Lyzeum

Die Stadt St. Wendel, in der das Gymnasium ein bestimmendes Element ist, hat im Laufe ihrer Geschichte mancherlei Schicksale erlitten und zu ihrem kleinen Teil auch mit bestimmt. Sie hatte als Stadt schon eine jahrhundertealte Geschichte hinter sich, als sie in den Befreiungskriegen das Quartier des Feldmarschalls Blücher und nachfolgender Truppenstäbe wurde. Der Durchzug preußischer, bayrischer und russischer Verbände strapazierte die Wirtschaftskraft der Stadt und des Kreises infolge von Requisitionen aller Art aufs äußerste. Als der Krieg entschieden war, war der Wohlstand geknickt, aber es fehlte nicht der Mut zu neuem Leben.

Man hätte glauben sollen, die Stadt würde preußisch, aber der Wiener Kongreß teilte 25.000 Seelen des ehemaligen Saar-Departements dem Herzog Ernst von Sachsen-Coburg für seine Verdienste um die Deutsche Sache zu. Am 11. September 1816 erließ der Landesfürst das „Besitzergreifungspatent“. Das Fürstentum aus den Kantonen St. Wendel, Baumholder und Grumbach erhielt den Namen „Fürstentum Lichtenberg“ nach der bekannten Burg bei Kusel. St.Wendel wurde Hauptstadt; es zählte ca. 2.400 Seelen.

Diese Funktion brachte coburgische Beamte in die Mauern der Stadt und schließlich auch für ein paar Jahre den kleinen Hof der geschiedenen Herzogin Luise, der den Lebensstil, vor allem den des Bürgertums, bestimmte.
Eine Zeitlang wurde die Spannung, die zwischen Regierung und Bürgerschaft herrschte, nicht zuletzt, weil die vom Land geleisteten Steuern zum großen Teil nach Coburg flossen, durch den Einfluß dieses Hofes gemildert.

Dieser Art waren die Verhältnisse – nur kurz umrissen – in denen die Einwohner der Stadt lebten, als das Lyzeum (Gymnasium), geschaffen wurde. Natürlich besaß die Stadt schon lange eine zweiklassige Stadtschule. Ihre Qualität steigerte sich, als der aus Neumagen stammende Johannes Schué, der in Trier Theologie und in Paris Philologie studiert hatte und bacalaureus licentiatus war, die Stelle des ersten Lehrers am 1. August 1817 besetzte.

Es gab in der Hauptstadt des Fürstentums für die Söhne der Bürger und Beamten keine höhere Schule. Sie mußten ins „Ausland“ – nach Preußen und Bayern – gehen (Trier, Kreuznach, Kaiserslautern, Zweibrücken). Daher wollten die Bürger die Regierung zur Errichtung einer höheren Schule veranlassen. Sicher steckten der rührige Bürgermeister Carl Cetto und Johannes Schué hinter folgender Aktion: Fünf junge St. Wendeler, die in Trier studierten: W. Hallauer, J. Heyl, Ph. J. Steininger, Karl Cetto und Franz Tosetti, machten eine Eingabe an die Landeskommission, in der sie die sozialen und finanziellen Gründe darlegten, die die Regierung veranlassen müßten, bald ein Gymnasium in St. Wendel zu gründen, das den Namen des Herzogs tragen sollte. Es waren keine Mittel da! Bürgermeister und Stadtrat wiederholten den Versuch ein Jahr später. Sie begründeten die Forderung damit, daß es für ein Land besser sei, die geistlichen und weltlichen Ämter mit eigenen Leuten zu besetzen, statt mit „Ausländern“. Deshalb solle „die erste Entwicklung glücklicher Talente im Vaterlande selbst möglich gemacht“ werden. Es fehlte auch das soziale Argument nicht, daß die begabten jungen Leute aus ärmeren Schichten unter den gegebenen Umständen keine Chance zum Aufstieg hätten. Zudem flössen enorme finanzielle Mittel ohne Änderung der Zustände in der Zukunft ins Ausland.

Die Landeskommission war Ende 1818 geneigt, der Errichtung eines Lyzeums näher zu treten. Bei den darauf folgenden Beratungen des Stadtrats spielten die Zusammensetzung des Lehrerkollegiums und die Besoldung, die Anzahl der Schüler und ihre finanzielle Leistung, freiwillige finanzielle Leistungen und eine Auflage für sämtliche Bürgermeistereien des Fürstentums eine Rolle. Bei einem von C. Cetto errechneten Kapitalbedarf von ca. 80.000 Gulden mußten Stadt, Fürstentum und Kirche, die auch an der Hebung des geistigen Niveaus interessiert war, finanziell zusammenstehen. Die Stadt stellte in der ehemaligen Magdalenenkapelle die nötigen Lehrräume und Wohnungen für die fünf vorgesehenen Lehrer zur Verfügung. Cetto sah einen Zeitraum von 10 Jahren bis zur gymnasialen Vollanstalt für notwendig an. Dies war ungefähr ein Jahrzehnt nach der Einrichtung des preußischen Gymnasiums durch W. v. Humboldt.

Angesichts der schwachen Aussichten für eine schnelle Verwirklichung gründete Schué mit dem ehemaligen Kandidaten der Theologie Sauer eine private Höhere Schule gymnasialer Art. Er hegte dabei die Hoffnung auf „Höheres“. Am 13. September 1823 legte schließlich ein Dekret des Herzogs Ernst die Grundbestimmung fest:

Stadtschule und Schuésche Privatschule werden vereinigt zum Lyzeum. Es umfaßte die Prima, Sekunda, Tertia und Quarta; diese Form wurde 1824 um eine 5. Klasse erweitert, welche die Schulanfänger aufnahm. Sekunda und Prima sollten nur für Knaben sein und hier der Unterricht in Latein, Französisch und reiner Mathematik einsetzen. Das Lehrerkollegium setzte sich zusammen aus Rektor, Konrektor und Tertius. Dazu kamen die Lehrer der Stadtschule als Quartus und Quintus. Da die Schule bis zur Tertia koedukativ war, war darunter eine Lehrerin. Mit der Schule war ein Landesschullehrerseminar verbunden, dessen Leiter der Rektor des Lyzeums war.

Am 26. September 1824 veröffentlichte der Regierungspräsident, Baron von Coburg, die Stiftungsurkunde, die Errichtung eines herzoglichen Lyzeums zu St.Wendel betreffend. Dies ist der Wortlaut:

Stiftungsurkunde, die Errichtung eines Herzogl. Lyzeums zu St. Wendel betreffend. Im Namen Sr. Durchlaucht des Herrn Herzogs Ernst, Herzog zu Sachsen-Coburg-Saalfeld, Fürst zu Lichtenberg usw. Seine Herzogliche Durchlaucht haben den angelegentlichen Wünschen der Bewohner des Fürstentums nach dem Besitze einer höheren Lehranstalt auf das vollständigste zu entsprechen und durch höchste Entschließung vom 12. d. M. die Errichtung eines Herzoglichen Lyzems allhier zu St. Wendel gnädigst zu verfügen geruht. Diese höhere Lehranstalt wird noch für das bevorstehende Wintersemester eröffnet und der Plan über die Lehrgegenstände des in 5 Klassen erteilt werdenden Unterrichtes demnächst zur allgemeinen Kenntnis gebracht werden. Zugleich haben Seine Herzogliche Durchlaucht dem bisherigen ersten Stadtschullehrer allhier Johann Schué zum Rektor, den Kandidaten der Theologie Karl Juch aus Gotha zum Konrektor, den bisherigen Hilfslehrer an der hiesigen Stadtschule Gregor Bergmüller zum vierten Lehrer und den Küster
und Stadtschullehrer Johann Jörg allhier zum fünften Lehrer an dem Herzoglichen Lyzeum gnädigst ernannt.

St.Wendel, den 26. September 1824.

Herzogl. Sächsische Regierung
Coburg.

Das Schulgebäude war die ehemalige Magdalenenkapelle. Die Eröffnung fand am 18. 10. statt. Weil die Stadt Hauptstadt war, wurde die Zusammensetzung des Festzugs von der Regierung folgendermaßen bestimmt: Stadtvertreter, Lehrerkollegium, Regierungspräsident, Mitglieder der herzöglichen Regierung und Verwaltung, die Bürgerschaft schloß sich dem Zuge an. Reden und Gegenreden äußerten Lob und Wünsche; ein Ball beschloß die Feier.

Damit hatte St. Wendel – zunächst – eine höhere Schule, die den Grundstein darstellte zum heutigen Gymnasium. Wenn man den Zeitpunkt innerhalb der großen deutschen Geistesgeschichte markieren will, so kann man sagen, es ist ein paar Monate vor der letzten Schaffensperiode Goethes 1825 und dem Beginn der Herausgabe seiner gesammelten Werke, auch das Jahr, in dem Rankes erstes Werk erschien. Es ist nicht möglich zu erkennen, wieviel von den aktuellen geistigen Bewegungen im nächsten Jahrzehnt in diesen Weltwinkel drang. Daß manches hineindrang, ist zu ersehen an der politischen Einstellung der Lehrer der Schule, wie noch zu zeigen sein wird. Der Unterricht war humanistisch bestimmt, wie die erste Abiturientenprüfung am 15. Oktober 1825 zeigte. Die zwei Prüflinge – die Schule hatte damals 69 Schüler – Gustav Amling und Nikolaus Clemens bestanden. Die Prüfung begann mit einer Erklärung einiger Stellen aus der Odyssee ex tempore, setzte sich fort in der achten Ode des dritten Buches des Horaz, erfaßte geschichtliche und mathematische Fragestellungen. Es gibt aber keine Notiz über die Kenntnisse im Deutschen, obwohl auch dieses Fach gelehrt wurde. Doch ist die Abhandlung im Deutschen Gegenstand der Prüfung der folgenden Jahre bis 1831, in denen sich die Abiturientenzahl erhöhte bis auf fünf, unter ihnen auch als jüngster Schüler ein Gothaer. Aus den ersten Jahren des Bestehens ist eine Einladungsschrift des Rektors zur Feier des Geburtstages des Herzogs Ernst am 2. Januar 1828 erhalten, selbstverständlich in Latein:

Es ist wahrscheinlich, daß das Lehrerkollegium einen bestimmenden geistigen Einfluß auf das Bürgertum der Stadt ausübte. Nimmt es wunder, daß die Lehrer angesichts ihrer klassischen Bildung das Zentrum eines Kreises der Philhellenen waren! Sie verfolgten begeistert den Freiheitskampf des griechischen Volkes und unterstützten ihn finanziell. Einer ihrer Schüler, der spätere St. Wendeler Arzt Dr. Trost, besang in einem Epos in Hexametern das Heldentum der Griechen. Dieser Gedanke einte auch einigermaßen die Beamten aus Coburg und aus St. Wendel, während man sich sonst ziemlich aus dem Wege ging.

Acht Jahre blühte die Schule, da kam ein Bruch. Die Wellen der Julirevolution von 1830 schlugen auch nach St.Wendel. Die drei Lehrer des Lyzeums vertraten großdeutsche, unionistische und parlamentarische Gedanken auch in öffentlichen Kundgebungen. „Es lebe Deutschlands Einheit, Stärke und Wohl!“ schloß Konrektor Juch, ein alter Jenenser Student, seine Rede auf dem Bosenberg ab. Sie machten Eingaben im Zusammenhang mit dem Hambacher Fest, in denen sie Beschwerde führten über die absolutistische Politik der Regierung und ihre unkorrekte Berichterstattung über politische Unruhen im Zusammenhang mit der Errichtung eines Freiheitsbaumes vor dem Roten Haus und der Verlagerung preußischer Truppen in die Stadt. Die Folgen waren nicht nur persönlicher, sondern auch schulischer Art. Die Schule wurde nämlich im Sommer 1832 geschlossen, die Schüler zerstreuten sich, die Lehrer Schué, Juch und Sauer wurden ins Gefängnis gesetzt, ebenfalls der Lehrer der Elementarklassen Bergmüller. Teilweise erfolgt Freispruch, teilweise Gefängnis bis zu drei Monaten, verhängt durch das Zuchtpolizeigericht.

Der Vorgang hat interessanterweise – allerdings nicht bis zu diesen Folgen – etwas mehr als 120 Jahre später eine Parallele.

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